Vier Tage draußen: Ein Wochenende zwischen Natur, Lernen und Gemeinschaft

Rückblick auf das Seminar “Selbstkompetenz — Selbstregulation in und mit der NATUR” mit Dr. Vera Oostinga als Teil der Pioneers of Education Weiterbildung von Marie Lenzner, Lehrerin

Die Namen der Seminarteilnehmenden wurden geändert.

Vorgeschichte


Meine Motivation, mich aus meiner Komfortzone – festes Gebäude, warme Dusche und WC – herauszubewegen, liegt unter null. Am liebsten würde ich das Wochenende mit dem Naturmodul in Potsdam absagen. Dann kommt eine Sprachnachricht von Manuela, die sich mit mir für das Wochenende absprechen will. Meine Motivation steigt, weil ich immerhin nicht allein in der Jurte übernachten werde, sondern mit meiner lieben Triadenpartnerin aus dem ersten LernKulturZeit-Jahr. Also doch packen für vier Tage in der Natur und das Schlafen in der Jurte.

Anfahrt


Ankunft am Potsdamer Hauptbahnhof. Es ist kühl, also kaufe ich mir noch einen Kuschelpulli. Darauf steht: „Good things will happen.“ Ein tolles Motto für alles Kommende. Ich gehe zum Gleis, um Manuela abzuholen, und wir fallen uns freudestrahlend in die Arme.
Ab geht es auf die abenteuerliche Reise mit Tram und Bus bis ans nördlichste Ende von Potsdam. Manuela ist froh, eine Ortskundige dabeizuhaben. Wir essen noch ein Eis in der Zivilisation, bevor wir in die Bahn steigen. Beim Institut für Agrartechnik ist Endhaltestelle. Jetzt geht es mit dem Gepäck zu Fuß weiter: Feldweg, Felder, Bäume, Natur … Sind wir richtig?
Plötzlich steht Paula auf dem Weg und winkt uns entgegen. Wir betreten durch ein Metalltor das Gelände vom Treibgut Potsdam. Da legt sich ein Schalter um.
Es ist, als hätten wir eine Schwelle überschritten. Alles fühlt sich richtig an, wir freuen uns über den schönen Ort und merken sofort, dass er etwas Magisches hat.

Ankunft am Ort

Vera Oostinga, die das Seminar leitet, umarmt uns zur Begrüßung. Ich lege meinen schweren Rucksack vor der Jurte ab. Mir wird klar: Ich habe noch nie in einer Jurte übernachtet. Es ist, als kämen wir in einem anderen Land an.
Die Begegnung mit den anderen Teilnehmenden, die gerade noch Zelte aufbauen und ankommen, ist entspannt. Die meisten kenne ich, und die Begegnung im Freien, auf der Wiese zwischen den Jurten, ist viel ungezwungener als in einem Seminarraum.
Das Treibgut Potsdam ist wunderschön. Auf der Wiese stehen eine Schlaf- und eine Seminarjurte. Ein großer Schuppen für Kanus. Zwei liebevoll gestaltete Trockentrenntoiletten, die mehr Komfort bieten, als ich dachte. Dahinter eine Dusche mit Badeofen, der mit Holz angeheizt wird. Eine überdachte Außenküche lädt zum Sitzen, Kochen und Abwaschen ein. Am Wasser ist eine gemütlich gestaltete Feuerstelle mit Sonnensegel, und am Strand der Badestelle stehen einige Liegestühle.
Zwei Stege führen zu den Hausbooten der sehr freundlichen Betreiber Silvie und Alex. Das Highlight ist eine Hochsauna mit Flussblick, die wir noch intensiv nutzen werden.
Rechts und links: Wald.

 

1. Streifzug

Nach dem ersten Ankommen starten wir in der Seminarjurte im Kreis, und Vera erzählt uns von sich, ihrer Ausbildung in Schweden und wie sie die Naturseminare mit Studenten an der Uni durchführt.
Was ich mir als Erstes aufschreibe: Funktionsmodus und Spürmodus.
Wir gehen bei unserem ersten Naturgang, oder wie Vera es nennt „Streifzug“, in den Spürmodus. Auftrag: Durch die Natur streifen, sie berühren …
Eine Stunde nur ich und die Natur. Und sofort zeigt sich eine andere Wahrnehmung. Ich gehe vom Weg ab, spüre den Wind, fühle die Gräser und schaue einfach in die Wolken. Mein System entspannt sich noch mehr und ich bin einfach nur da.

 

Abenteuer passieren – wenn man sie nicht erwartet

Während unseres Naturgangs kochen einige schon, sodass wir gleich ein Abendbrot serviert bekommen. In mehreren Anläufen hatten wir versucht, die Selbstversorgung vor Ort zu organisieren. Letztendlich haben Luisa und Peter mit dem Auto viele leckere Dinge eingekauft und sind davon völlig platt und genervt, aber wir anderen sind sehr dankbar. Einige fühlen sich berufen zu kochen oder den Tisch zu decken, und ich habe einfach Lust abzuwaschen. Jeder tut das, was er gern macht und gut kann. Das fühlt sich symbiotisch und angenehm an. Ich kann bei jeder Mahlzeit guten Gewissens essen, obwohl ich nichts dafür getan habe, weil ich weiß: Ich wasche ab – und darauf hat niemand so richtig Lust. Und ich mag es. Vor allem, weil sich immer jemand zum Abtrocknen findet und ich dabei noch ein schönes Gespräch führen kann.

Doch vor dem ersten Abendbrot passiert etwas Unerwartetes: Der Koch des leckeren Essens hat das Bedürfnis, schnell noch einmal in den See zu springen – leider an einer sehr flachen Stelle … Verletzung an der Nase. Auch hier sind sofort einige da, beruhigen und sind einfach präsent. Vera ruft den Krankenwagen, und er wird mitgenommen. Wir sind einerseits so froh an diesem Ort, aber auch besorgt, was jetzt passiert.
Und auch hier gibt es wieder jemanden, der die ganze Zeit per Handy Kontakt hält, und zwei, die ihn mitten in der Nacht im Krankenhaus abholen. Er hat sich, ohne Narkose, nur mit örtlicher Betäubung, die Nase richten lassen, um beim Seminar weiter dabei sein zu können.
Warum schreibe ich das?
Weil ich glaube, dass das ganze Seminar anders verlaufen wäre, wenn das nicht gleich am Anfang passiert wäre. Es wirkte auf uns als Gruppe.

 

2. Tag: Steine, Schwellen, Gesänge

Vera legt Steine in die Mitte. Ziel der nächsten Übung im Sinne der sensory awareness ist es, in die Präsenz zu kommen. Jeder wählt einen Stein aus und betrachtet ihn ausführlich. Dann soll man ihn ganz bewusst und präsent weitergeben. Ich habe einen wunderschönen Stein, der aussieht wie ein Herz. Ich betrachte seine Vielfalt … und will ihn eigentlich nicht wieder hergeben. Tue es trotzdem. Jeder Stein, den ich erhalte und betrachte, steht für einen Menschen in meinem Leben.
Der nächste Naturgang ist ein Schwellengang: Wir sollen eine natürliche Schwelle übertreten und einfach HIER sein. Ich sitze erst unter einem Baum, liege dann auf der Wiese. Die Natur bewegt sich um mich herum. Der Wind weht durch die Bäume. Die Verbindung mit der Natur ist so stark, und ich fühle mich ihr und mir selbst verbunden. Sie bewegt so viel in mir, und ich schaue in die Weite.
Am Ende des Tages singen wir gemeinsam einen Joik der samischen Musikerin Mari Boine.
Es ist eine besondere Zeit. Wir sind nur neun Menschen. Der Ort, der auf uns eine besondere Wirkung hat. Die Naturgänge, die gegenseitige Offenheit, die Verbindung über die LernKulturZeit, der sichere Raum, den Vera und wir gemeinsam kreieren.

 

3. Tag: Verbindung und Spiel

Den dritten Tag beginnen wir im Kreis und sammeln unsere Erfahrungen ein. Ich höre schöne Sätze wie:

„Uns verbindet immer mehr, als uns trennt.“

„Wahre Schönheit kommt von innen.“

„Unser größter Schritt ist, unser Potenzial anzuerkennen und zu leben.“

Tiefe Wunden und Schatten kommen ans Licht. Wir sind füreinander da. Es entsteht der große Wunsch, uns zu verbinden und gegenseitig zu stützen. Vera schlägt eine Schwarmübung vor. Es geht darum, sich eng aufzustellen, umeinander herumzugehen und sich zufällig zu berühren. Wir gehen dafür hinaus in die Sonne. Am Ende sind wir ein großes Kuschelknäuel. Wir überlegen, wie es wohl jemand gesehen hätte, der uns in diesem Moment beobachtet hätte.
Aber in diesem Moment sind wir nur für uns, berühren uns und schenken uns etwas, das uns als Menschen verbindet: Berührung und Halt.

Wir singen gemeinsam ein Lied der Maori. Die Lieder und Übungen, die Vera immer wieder spontan und passend zur Situation hervorzaubert, schaffen sinnliche Momente der Achtsamkeit und verbinden uns noch mehr.

Am Nachmittag erwartet uns der Naturgang „Spielen in der Natur“. Spiel ist zweck- und zielfrei. Kinder können das, wir Erwachsene müssen es erst wieder lernen. Alles darf sein. Am Ende hört man Kreischen, einige sind mit Schlamm beschmiert, haben Federn im Haar, sind nur noch leicht bekleidet oder kommen mit Schätzen aus der Natur zurück. Und das Highlight ist Prinzessin Paula, die diesen Namen bis zum Ende des Seminars nicht mehr loswird.

Mit dieser Reise in die Kindheit tauchen Themen auf, die ganz tief vergraben waren. Für mich ein abgetriebenes Geschwisterkind, für das ich einen kleinen Gedenkort gestalte, ihm einen Namen gebe und mich dankbar verbinde und verabschiede. Etwas in mir ist geheilt, an das ich noch nie herangekommen bin.

 

Abschied am 4. Tag

Was nehmt ihr mit? Wie nehmt ihr es mit? Wohin nehmt ihr es mit?
Mit diesen Fragen starten wir in die Abschlussrunde.
Ich nehme den weiten Blick in die Wiese mit. Mit meinem Herzen. In meine Zukunft.

Unvergessliche Sätze zum Abschied:

„Die Welt ist ein riesiges Wunder!“

„Es ist toll, in diesem Moment auf der Welt mit euch zu sein.“

„Mehr bedarf es nicht – und das ist so viel.“

 

„Das abgefahrenste Wochenende, das ich je hatte.“

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