Welche Bildung braucht die Digitalität?
Am Bildungssystem und der Umsetzung der Digitalisierung Kritik zu üben ist in Mode – zu Recht. Alle unsere Bemühungen um eine neue Lernkultur durch Digitalisierung werden nichts nützen, wenn wir den Wandel nicht ganzheitlich betrachten. Wie das gehen kann, zeigt dieser Artikel. Zuerst erschienen in bildung + schule digital 2020.
Ungewisse Zukunft
Glaubt man Zukunftsforschern und Wirtschaftsexpertinnen, werden die Kinder, die heute geboren werden, in eine Welt hineinwachsen, die uns fremd sein wird. Die Zeit, die viele als VUCA¹ beschreiben, ist gekennzeichnet durch disruptive Veränderungen, die wir uns nicht vorstellen können, da sie exponentiell verlaufen.
Viele Experten haben sich hier schon verschätzt, so z.B. Gottlieb Daimler, mit seiner Annahme „Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren.“ Dabei extrapolierte er linear aus der Vergangenheit in die Zukunft. Durch die disruptive Veränderung – der Beruf des Chauffeurs wurde überflüssig – wurde ein viel größeres Wachstum möglich, das nicht vorhersehbar war. Viele der Berufe, die es heute noch gibt, werden neuen weichen. Unsere Kinder können diese mitgestalten – wenn wir sie dazu befähigen.
Die Chance des Augenblicks

Computer im Klassenzimmer allein machen keine neue Lernkultur. Ein Bildungssystem hat keinen Zweck an sich, Gesellschaften erschaffen es. Die Bildung des letzten Jahrtausends war orientiert an der Anpassung des Menschen an die Wirtschaft. Das Zeitalter der Digitalität befreit uns vom Diktat der Produktionsabläufe und rückt den Menschen wieder in den Mittelpunkt. Diese Chance dürfen wir nicht verpassen! Jetzt gilt es, das lebenslange Lernen ganzheitlich neu zu implementieren, sodass die nächsten Generationen befähigt werden, Teil der Lösung zu werden, vor die uns die globalen Herausforderungen stellen. Nicht nur das Wissen um Changeprozesse, sondern auch innere und äußere Faktoren des Wandels zu kennen unterstützt uns dabei, ins Handeln zu kommen.
Zeiten des Wandels
Die letzten 150 Jahre sind von enormen Fortschritten geprägt, die unser ganzes Leben beeinflussen. Durch die zunehmende Digitalisierung erleben wir nochmals eine Beschleunigung. Eine Zahnarztpraxis von 1912, in der Zähne aufgebohrt wurden ohne Betäubung (siehe Abb. 1²) hat ihre Attraktivität verloren. Da muss heute niemand mehr durch. In der Schule ist es noch nicht so offensichtlich, da vertrauen wir eher auf die Tradition. Hier hat sich substanziell in der Kultur und sogar in den Räumen nicht viel verändert. Lernende sind zu unterrichtende Objekte, aber nicht Subjekte ihrer eigenen Lernlust.
Bereiten wir unsere Kinder nicht gut vor?
Obwohl wir doch wissen, dass wir nicht wissen, wie die Zukunft aussieht, halten wir an der Erfüllung von Lehrplänen fest – analog oder digital. Wir denken zu wissen, was diese Kinder in der Schule lernen müssen, um gut vorbereitet zu sein. Damit extrapolieren wir die Erfahrungen unserer Vergangenheit in die Zukunft, anstatt uns neu auszurichten. Wir haben zwar so viele Daten wie nie zuvor, gleichzeitig aber so wenig Sicherheit wie nie, wie die nächsten 10-15 Jahre aussehen werden. Dabei sind sich Experten aus Wirtschaft, Hirnforschung, Zukunftsforschung und Medizin schon längst einig, dass unser Bildungssystem dringender Reformen bedarf. Falsch verstandene Digitalisierung bedeutet, das Unterrichten einfach nur mit digitalen Medien zu tun, ohne die Inhalte oder die Kultur zu verändern.
Die Durchschnittsfalle
Als Durchschnittsfalle bezeichnet Prof. Hengstschläger in seinem gleichnamigen Buch die Tatsache, dass wir an Lernstandards festhalten, die allen die gleichen Inhalte zukommen lassen, und damit einen Durchschnitt ausbilden. Diese Strategie war in Zeiten der Selektion von Akademikern und der Massenproduktion von gebildeten Arbeitern zur Bedienung der Maschinen noch zielführend, trifft aber nicht mehr die Bedürfnisse einer digitalen Gesellschaft. Alles, was auf Routine und Gleichförmigkeit aufgebaut ist, kann von Maschinen, KI, Robotern etc. ausgeführt werden. Was Menschen in Zukunft immer mehr brauchen, ist das, was diese Maschinen nicht können: kreativ und innovativ sein, zusammenarbeiten, neue Ideen entwickeln. Das heißt, wir müssen die Mentalität der Massenproduktion aus dem letzten Jahrtausend hinter uns lassen. Sie ist immer noch vorhanden. Wenn z.B. ein Grundschüler bestimmte Fähigkeiten noch nicht ausgebildet hat, beschweren sich Lehrende von weiterführenden Schulen, dass es „Lücken“ gibt, sprich, das „Produkt“ weist Mängel auf und kann nicht problemlos „weiterverarbeitet“ werden. Bitte Produktionsabläufe verbessern…
Die Lernkultur, die wir brauchen
Kinder sind nicht alle gleich. Das sollten wir nutzen, anstatt zu versuchen, sie anzupassen. Schon jetzt weisen Unternehmer darauf hin, dass sie Menschen in ihren Unternehmen suchen, die teamfähig sind, die Lust haben, sich weiterzubilden, die selbstständig arbeiten, und keine in Konkurrenz arbeitenden Egomanen. Wir bewegen uns auf eine völlig neue Wirtschaftswelt zu, Beispiele gibt es schon.³ Die heute noch als Softskills bezeichneten Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationskompetenz und Empathiefähigkeit werden die Hardskills von morgen sein, auf die es in der Digitalität ankommt. Ein zukunftsorientiertes Bildungswesen sollte die Voraussetzungen zu ihrer Ausprägung schaffen. Es muss uns in Zukunft gelingen, die jungen Menschen weniger für unsere Fächer, dafür aber für ihr Leben zu begeistern, für ihre Stärken und das, was sie bewirken können, also ihre Selbstwirksamkeit stärken.
Was hat dies mit der Digitalisierung zu tun?

Für einen ganzheitlichen Wandel im Bildungssystem wird es nicht genügen, „nur“ digitale Endgeräte an Schulen anzuschaffen und die Kollegen zu schulen, wie man mit Zoom-Konferenzen unterrichtet. Damit Veränderung im Ganzen nachhaltig wird, bedarf es der Berücksichtigung von vier Ebenen, die sich aus den Schnittstellen von individuellen, kollektiven, inneren und äußeren Faktoren ergeben. Die innere Arbeit an Haltungen, Motivation und Kultur und Kommunikation (die inneren „Quadranten“) braucht die gleiche Aufmerksamkeit wie die an den äußeren Quadranten, wo es um neues Verhalten, neue Rollen und andere Strukturen und Kontexte geht (Abb. 2).
Digitale Bildung ganzheitlich

Ein auf die Digitalität abgestimmtes Bildungssystem stellt den Lernenden und seine individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunkt. Das bedeutet eine andere Haltung: Der „Lehrer“ wird zum Lernbegleiter. Das funktioniert am besten im Team, was bedeutet, dass Einzelkämpfer zu Teamplayern werden müssen – ein Paradigmenwechsel im Lehrberuf. Unterricht im Fächer- und Zeitkorsett für alle gleich fällt weg zugunsten selbstständigen Arbeitens mit abgesprochenen individuellen Zielen. Artifiziell als Fächer abgetrennte Inhalte und Fähigkeiten verbinden sich in projektbasiertem Lernen und sind auf die aktuellen Herausforderungen abgestimmt.
In Schulen muss Raum entstehen für Zukunftsthemen, um gerade junge Menschen im Sinne des Nationalen Aktionsplans für Bildung für nachhaltige Entwicklung an der Transformation unserer Gesellschaft zu beteiligen. Nur in einem Quadranten Veränderung herbeizuführen ist Stückwerk und meist mehr Be- als Entlastung. Innovation braucht Exnovation und mutiges Loslassen von alten Strukturen. Ein wunderbares Gelingensbeispiel eines ganzheitlichen Ansatzes ist die Alemannenschule Wutöschingen, die zudem analoges und digitales Arbeiten verbindet.